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INTERVIEW MIT FLORA KUNOVIĆ

„In Deutschland können die Eltern das Klassenbuch nicht sehen, das existiert nicht, das funktioniert nicht”

Drei Schülerinnen der dritten Klasse des bilingualen Programms sprachen im Rahmen des Soziologieunterrichts auf Deutsch mit Flora Kunović über die Freiwilligenarbeit, über Unterschiede zwischen dem kroatischen und dem deutschen Bildungssystem und über Floras Erfahrungen mit der kroatischen Sprache und Kroatien

Pišu: Mia Malenica, Nina Martić, Nina Šainović

17. lipnja 2024.

Mia: Hallo Flora, was bitte bedeutet kulturfreiwillig?

Flora: Kulturfreiwillig bedeutet, dass ich gerade mein freiwilliges soziales Jahr mache. Im freiwilligen sozialen Jahr engagiere und arbeite ich ehrenamtlich, praktisch ohne bezahlt zu werden.  Das machen in Deutschland viele. Man kann das in verschiedenen Bereichen machen. Unter den Kulturbereich fällt Schule beziehungsweise Schule im Ausland, Theater oder Museen, aber das sind nur Beispiele. Man kann das (FSJ) genauso gut auch in einem ökologischen Feld machen, das nennt man dann ökologisches freiwilliges Jahr (FÖJ), da könnte man dann z.B. in einem Naturschutzgebiet arbeiten. Kulturfreiwillig bedeutet insbesondere, dass ich entweder mit Kultur arbeite, also Kultur aufarbeite oder Kultur „selber mache“, im Sinne von kreativ sein, also die Kultur schaffend. So bin ich nach Kroatien gekommen, arbeite hier und lerne dadurch eine andere Kultur kennen. Das Kennenlernen von Kultur und mit Kultur arbeiten, bedeutet kulturfreiwillig zu sein.

Mia: Warum hast du dich für Kroatien entschieden, also hierher zu kommen?

Flora:  Ich weiß nicht, ob man das „Zufall“ nennen kann. Kulturweit, das ist die Organisation, mit der ich hier bin, die gehört zu UNESCO. Und da kann man nur einen Kontinent angeben, auf dem man sein FSJ machen möchte. Ich habe mich für Europa entschieden. Ich wusste aber noch nicht genau, welches Land es werden soll: Ich habe auf Kroatien gehofft, aber ich wusste nicht, ob es hier Stellen gibt. Ich habe dann das Angebot für Kroatien (Zagreb) bekommen und habe das dann auch sofort angenommen. Und das war für mich total viel Glück! Ich weiß gar nicht, ob ihr das wisst, aber ich habe Familie in Kroatien, die kommt aus Zagreb und es ist sehr schön, dass ich wieder hierhergekommen bin und das Land anders kennenlernen kann, weil ich es bis jetzt nur als Touristin kenne oder halt, um meine Familie zu besuchen.

Nina M.: Okay, und kannst du uns ein bisschen über das deutsche Schulsystem erzählen und hast du irgendwelche Unterschiede zum kroatischen Schulsystem gesehen?

Flora: Also, das ist eine sehr umfangreiche Frage. Ich kann nur für Niedersachsen reden, das Bundesland, aus dem ich komme, weil es in Deutschland in jedem Bundesland anders ist. Das heißt, es gibt 16 verschiedene Varianten von dem, was ich euch jetzt erzähle. Wir haben G9, das bedeutet, wir haben 13 Jahre Schule, wenn du das Abitur machen möchtest und keine 12 Jahre, wie ihr es kennt. In Niedersachsen gehen alle zur Grundschule und danach bekommt man von seinem Klassenlehrer eine Empfehlung, welche Schulform man besuchen sollte, aber man kann sich dann trotzdem frei für eine von drei verschiedenen Schulformen entscheiden. Entweder geht man auf ein Gymnasium, das fast genauso aufgebaut ist wie bei euch, oder auf die Gesamtschule oder die Haupt- und Realschule. Die Gesamtschule ist eine Schule, da können alle Schüler hingehen. Das heißt, da gehen Schüler hin, die eigentlich eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen haben, aber es gehen zum Beispiel auch Menschen mit einer Lernbehinderung oder Menschen mit einer geistigen Behinderung hin. Der Unterschied zwischen einem Gymnasium und einer Gesamtschule ist, dass man grundsätzlich sehr viel Berufsvorbereitung macht. Wir haben sehr viele Praktika, das haben sie im Gymnasium nicht. In der Gesamtschule gibt es in den ersten drei Jahren keine „richtigen“ Noten und man hat keine Hausaufgaben. Dafür hat man auf der Gesamtschule zwei Stunden mehr Unterricht in der Woche. In diesen zwei Stunden bearbeitet man mithilfe einer Lehrkraft einen Wochenplan. Dieser Wochenplan hat alle Aufgaben für alle Fächer, die man in der Woche schaffen muss. Eine traditionelle Benotung hat man so noch nicht. Wenn man einen Test schreibt, dann bekommt man keine Note zurück, sondern eine Einordnung in eine Kategorie. Das Beste ist „erreicht“, dann kommt „teilweise erreicht“, und „nicht erreicht“ ist das schlechteste. Du kannst aus den Kategorien also nur sehen, ob du bestanden hast oder nicht. Das Bewertungssystem ändert sich dann später aber, denn man wird in verschiedene Niveaus eingeteilt. Das heißt, in Deutsch, Mathe und Englisch gibt es zwei Arbeitsniveaus, die unterschiedlich schwer sind. Ab dem Zeitpunkt, an dem man in die Arbeitsniveaus eingeteilt wird, bekommt man dann „normale“ Noten. Da ist in Deutschland 1 das beste und 6 das schlechteste. Und dann kann man an einer Gesamtschule und auch an Realschulen verschiedene Abschlüsse machen. Den Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss oder den erweiterten Realschulabschluss. Wenn du den erweiterten Realschulabschluss hast, dann kannst du die gymnasiale Oberstufe besuchen, wo du dann dein Abitur machen kannst. Die Oberstufe ist dann das, wo alle zusammenkommen, die das Abitur machen wollen. Das Abitur kann man am Gymnasium machen oder an einer Gesamtschule. An allen Gymnasien besteht die Möglichkeit, dort das Abitur zu machen, aber nicht alle Gesamtschulen haben eine Oberstufe. Also ich habe eine Gesamtschule besucht und musste dann die Schule wechseln, um mein Abitur machen zu können. Dann gibt es noch die dritte Schulform, die Haupt- und Realschule. Die Hauptschule soll jetzt allerdings in Niedersachsen abgeschafft werden. Die Haupt- und Realschule ist eine Schule, wo Schüler hingehen, die leistungsschwächer sind. Also die nicht so gut in der Schule sind. Auch da gibt es am Anfang keine richtigen Noten. Das kommt dann alles mit der Zeit, ähnlich wie in der Gesamtschule. In der Haupt- und Realschule machen die meisten Schüler jedoch einen Hauptschulabschluss. Das ist ein niedrigerer Schulabschluss.

 

Mia: Warst du im Schock, als du hierhergekommen bist?

Flora: Nein, ich glaube, das hier sind ganz normale Verhältnisse. „Schockiert“ war ich nur darüber, dass hier noch mit Papier gearbeitet wird. In Deutschland dagegen arbeiten wir in der Schule fast nur noch mit dem I-Pad, das ist hier anders.  Wenn wir über Respekt sprechen, dann wird es sicher Orte geben, wo es mehr oder weniger Respekt gibt als in Deutschland oder Kroatien. Ich glaube aber schon, dass die Situationen ziemlich ähnlich sind.

Nina Š.: Lernst du Kroatisch und gefällt dir Zagreb und das XVIII. Gymnasium?

Flora: Ja, ich lerne Kroatisch, ich mache gerade meinen Kroatisch A2 Kurs. Es ist sehr schwierig, aber es macht einfach Spaß, die Sprache zu lernen.

Zagreb gefällt mir total gut und die Menschen sind supernett, ich habe sehr gute Freunde gefunden und ich mag meine Arbeit sehr gerne. Mir gefällt das XVIII. Gymnasium. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass einem Zagreb irgendwann zu klein wird, wenn man sein ganzes Leben lang hier lebt. Ich komme aus einem kleinen Dorf und ich finde es ist ganz angenehm, weil immer was los ist und man immer was machen kann.

In Deutschland haben wir verschiedene Abschlüsse, ganz oben das Abitur, mit welchem man dann auch studieren gehen kann, dann kommt der Realschulabschluss beziehungsweise der erweiterte Realschulabschluss und als letztes der Hauptschulabschluss. In Deutschland hat man auf jeden Fall einen Abschluss, wenn man die Schule verlässt. Man kann die Schule in der 9. Klasse in Deutschland verlassen, was bei euch die erste Klasse ist, dann muss man eine Ausbildung machen oder man verlässt die Schule nach der 10. Klasse, also eure zweite Klasse. Nach der 10. Klasse kann man entweder eine Ausbildung machen oder die Oberstufe besuchen. Wenn man eine Ausbildung macht, dann besucht man für drei Jahre eine Berufsschule, wo man einen Beruf erlernt.

Ein Unterschied zum kroatischen System ist, dass bei euch der Unterricht formeller ist, das ist natürlich nicht bei allen Lehrern so, aber tendenziell eher. Ich habe das Gefühl, dass es öfter so ist, dass der Lehrer vorne steht und redet, ihr müsst halt mitarbeiten und das war's. Bei uns (in Deutschland) ist es eher so, dass es ein Miteinander ist, man arbeitet viel im Unterricht zusammen, wir schreiben sehr viel mehr Analysen als ihr. Ein weiterer Unterschied ist, dass wir in Deutschland auch Noten für das Arbeits- und Sozialverhalten und für die Mitarbeit bekommen. Das heißt, wenn du dich nicht gut deinen Mitschüler gegenüber verhältst, dann kannst du darauf eine schlechte Note bekommen. Oder wenn du unordentlich arbeitest und deine Sachen nicht dabeihast, dann kannst du darauf eine schlechte Note bekommen. Arbeitgeber legen sehr viel Wert darauf, dass man da gute Noten hat. Außerdem ist es in Deutschland so, dass viele eine Ausbildung machen. Also hier studieren ja sehr viele Menschen oder zumindest wollen sehr viele Menschen studieren. Im Gegensatz zu Kroatien haben wir nur vormittags Unterricht, also maximal bis 16 Uhr. Bei Tests habt ihr ja immer verschiedene Stunden für die unterschiedlichen Teile, also Hörverstehen schreibt ihr ja zum Beispiel häufig an einem anderen Tag als die SK. Das ist in Deutschland nicht so. Das ist alles in einem Test, den man innerhalb von zwei Stunden schreibt. In der Oberstufe schreibt man dann 6-stündige Tests, also wir haben alles an einem Stück ohne Pause. Ich habe das Gefühl, dass das hier sehr viel freier ist als bei uns.

Mia: Kannst du uns auch das Verhältnis zwischen den Lehrern und Schülern erklären?

Flora: In Deutschland wird eine sehr klare Linie zwischen Schülern und Lehrern gezogen. Man darf z.B. nicht ihre Handynummer haben. Man darf mit den Lehrern also nicht über Whatsapp schreiben, das ist verboten. Man muss alles offiziell machen, also über Teams oder über E-Mail. Das sind so die normalen Dinge. Im Unterricht ist es so, dass man sehr gefördert wird. Es werden immer wieder Gespräche geführt, in denen besprochen wird, auf welchem Lernstand man gerade ist, was man erreichen muss und wo die Probleme liegen. Ach, und in Deutschland können die Eltern das Klassenbuch nicht sehen, das existiert nicht. Ich glaube, dass das verboten wäre.

Mia: Haben Schüler in Deutschland mehr Respekt gegenüber Lehrern als hier?

Flora: Kommt immer auf die Person an, die vor dir steht. Vor manchen hat man sehr viel Respekt, vor anderen nicht so viel. Ich glaube, dass das wie in Kroatien ist. Je älter man wird, desto mehr Respekt hat man für die Lehrkräfte und, naja, fast schon freundschaftlich wird das Verhältnis oft. Also im Abitur kennt man seine Lehrkräfte sehr gut. Man hat viel mit ihnen zu tun. Man muss sehr viel mit ihnen arbeiten und da hat man eigentlich auch den Respekt. Wenn jemand eine schlechte Lehrperson ist, dann werden die SchülerInnen das zurückmelden, und dann wird man als Lehrer oder Lehrerin mitkriegen, dass man keinen guten Job macht. Kinder werden dazu erzogen, selbstständig zu arbeiten beziehungsweise zu versuchen, Probleme eigenständig zu lösen.

Nina Š.: Welche Reisen hast du unternommen?

Flora: Also bis jetzt war ich während meines Freiwilligendienstes in Ljubljana, Belgrad, Sarajevo, Rijeka, Zadar und noch in ein paar anderen Städten an der Küste.

Nina Š.: Was sind deine Zukunftspläne?

Flora: Wenn ich wieder nach Deutschland komme, dann fange ich an zu studieren. Ich möchte dann Politik und Deutsch auf Lehramt studieren, aber davor habe ich noch etwas frei und werde so viel reisen wie möglich.

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